Sonntag, 21. August 2011

[OPAW] ... Der Leser ...


Das heutige Gedicht stammt wieder einmal aus der Feder von Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), dem österreichischen Erzähler und Lyriker. Sein eigentlicher Name war übrigens: René Karl Wilhelm Johann Josef Maria :)

Der Leser

Wer kennt ihn, diesen, welcher sein Gesicht
wegsenkte aus dem Sein zu einem zweiten,
das nur das schnelle Wenden voller Seiten
manchmal gewaltsam unterbricht?

Selbst seine Mutter wäre nicht gewiß,
ob er es ist, der da mit seinem Schatten
Getränktes liest. Und wir, die Stunden hatten,
was wissen wir, wieviel ihm hinschwand, bis

er mühsam aufsah: alles auf sich hebend,
was unten in dem Buche sich verhielt,
mit Augen, welche statt zu nehmen, gebend
anstießen an die fertig-volle Welt:
wie stille Kinder, die allein gespielt,
auf einmal das Vorhandene erfahren;
doch seine Züge, die geordnet waren,
blieben für immer umgestellt.

1 Kommentare:

Ein tolles Gedicht. Ich lese aktuell die Briefe an den jungen Dichter von Rilke. Liebe Grüße Jana

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